Die Presse June 17, 2007
Read it in English

Jim Fletcher. Photo by Chris Beirens

GatzPress

Ein Sieg Der Literatur Über Die Zeit

Theater. “Gatz” nach dem Roman “Der große Gatsby” bei den Festwochen: Siebeneinhalb Stunden Konzentration.

von Anne-Catherine Simon

Es ist zwanzig vor zehn auf dem alten Wecker im Büro, als ein Angestellter, dessen Computer nicht funktioniert, ein Buch aufschlägt und zu lesen anfängt: F. Scott Fitzgeralds „The Great Gatsby“. Und es ist zwanzig vor zehn auf dem Wecker, als siebeneinhalb Stunden später der letzte Satz des Romans fällt: „So kämpfen wir weiter, wie Schiffer gegen den Strom, unaufhörlich zurückgeworfen in die Vergangenheit.“ Fitzgerald, heißt es, war besessen von Kalendern und Uhren, sein Held Jay Gatsby ist es auch, er glaubt, dass er die Zeit zurückdrehen kann, hinter den Punkt, als seine große Liebe Daisy einen anderen heiratete. Am Ende ist Daisy fort, und er ist tot.

Mischung von Büro- und Glamourwelt

„Gatz“, das nach Gatsbys eigentlichem Namen benannte Experiment der New Yorker Truppe „Elevator Repair Service“, sollte die Geschichte erzählen, Wort für Wort wie Fitzgerald schrieb. Es sollte einen Roman auf die Bühne bringen, und doch sollte der Roman erhalten bleiben. Das Ergebnis war am Samstag im Rahmen der Wiener Festwochen zu sehen. Was man an diesem halben Tag in der Halle G im Wiener Museumsquartier erleben konnte, war mehr als eine gute und gut gespielte Geschichte, es war ein geradezu körperlich spürbarer Sieg der Literatur. Und zwar gerade auch über das, woran Fitzgeralds Held scheitert: die Zeit.

Zeit, die anfangs immer wieder lang wird, lästig. Wie die laute Lektüre des durch sein Computerproblem zur Muße gezwungenen Büroangestellten — die Kollegen reagieren verärgert, befremdet. Er liest weiter, bald passt etwas in dem Büro nicht mehr so ganz — eine übt Golfbewegungen, wenig später spricht sie den Part von Jordan Baker, der kühlen Sportlerin, darauf wird der Portier zum breitbeinigen Tom Buchanan, Daisys Ehemann, und so weiter, bis der Chef sich in Gatsby verwandelt. Regisseur John Collins nutzt die komischen Möglichkeiten, die sich aus der Vermischung der grauen Büro- mit der Glamourwelt des Romans, aus dem Aufeinanderprallen von Theater und Lektüre ergeben, sprenkelt die Aufführung mit skurrilen Einfällen, bleibt aber minimalistisch, umspielt die Lektüre nur so weit, dass der Text im Zentrum bleibt. Gatsbys pinkfarbener Anzug ist das auffälligste Accessoire, die Bürokulissen bleiben, ob die Figuren Parties in Gatsbys Märchenhaus auf Long Island feiern, sich in einem Hotel betrinken, Buchanans Geliebte Mrs. Wilson auf der Straße von Daisy überfahren wird oder Mrs. Wilsons Ehemann Gatsby im Swimmingpool erschießt. Ebenso sparsam wird akustisch unterstützt, mit quietschenden Bremsen, Grillengezirp oder Jazz aus den „Roaring Twenties“, in denen der Roman spielt.

Ein letztes Beisammensitzen

Nicht alle halten durch. Nach dreieinhalb Stunden Lauschen — des stark amerikanisch gefärbten Englisch — und einer Stunde Pause ist das Publikum etwas ausgedünnt, zum Teil auch ausgewechselt. Um den abschreckenden Effekt der Länge zu verringern, hat man „Gatz“ in zwei Teile geteilt und die Karten getrennt verkauft. Die meisten aber bleiben von Anfang bis Ende — und werden belohnt. Wenn Gatsby, der Daisy schon verloren hat, es aber noch nicht wahrhaben will, und der Erzähler Nick ein letztes Mal beisammen sitzen — eine völlig stille Passage —, hört man nicht das kleinste Wetzen auf den Tribünen, es gibt kein Büro mehr, nur das unsichtbare Haus auf Long Island, das grau-goldene Morgenlicht und geisterhafte Vögel, die über blauen Blättern zu singen beginnen.

Etwas hat sich verändert in den letzten Stunden: Es ist ein Gefühl wie beim Marathon, man hat sich gezwungen weiterzulaufen, und plötzlich ist der Punkt da, wo man nicht ans Aufhören denkt, sondern immer weiter laufen möchte. Am Ende der Aufführung steht die Zeit nicht mehr still, aber niemand scheint es eilig zu haben. Eine Stimme aus dem Zuschauerraum sprach aus, was viele dachten: „Ein echtes Geschenk“.