- Art in America February 1998
- The Village Voice November 3, 1998
- The New York Times October 26, 1998
- Die Welt September 10, 1998
- taz September 10, 1998
- taz September 10, 1998
Frenetischer Applaus Für Pauls Zappelnde Füße
»Total Fictional Lie« in den Sophiensälen
Zu den sublimsten Genüssen der Jugendzeit gehört es, stundenlang entspannt und berauscht in einer Disko am Rande der Tanzfläche zu stehen und den anderen zuzusehen, wie sie sich rhythmisch bewegen. Wer das früher gerne tat oder immer noch gerne tut, ist bei der Gruppe »Elevator Repair Service« gut aufgehoben. Deren Tänze sind von jener Lässigkeit, die sich nur Könner erlauben können. Sie wirken unangestrengt wie die Bewegungen normaler junger Menschen, die mit ihrem selbstvergessenen Tun keinerlei künstlerische Absichten verfolgen.
Der Trick funktionierte auch in den Sophiensälen bei der Welturaufführung »Total Fictional Lie«, einer Produktion, die die Berliner Festwochen bei den New Yorkern in Auftrag gegeben haben. Es ist die achte Produktion der Gruppe, die der Ex-Toningenieur der Wooster Group, John Collins, 1991 gründete. Collins führte diesmal mit Steve Bodow Regie.
Erzählt wird eine Geschichte um den in den frühen sechziger Jahren berühmten Sänger Paul Anka — dargestellt von einer Frau. Man hört Paul protzen, daß er 35 Kilo abnahm, um ein Star zu werden. Man sieht seine Fans, wie sie Partys vorbereiten, sich beim Engtanz abklatschen oder unfähig sind, einem Vertreter ein religiöses Erbauungsbüchlein abzukaufen. Und eine Serienmörderin rechtfertigt sich, sie habe alles nur aus Notwehr getan.
Den größten Auftritt haben Pauls zappelnde Füße. Sie sind alles, was zu sehen ist, während er in New York eine vollkommen sinnfreie Rede hält und dafür frenetischen Applaus bekommt. Und wahrlich: Die Füße von Susie Sokol sind komischer als vieles, was andere mit ihrem Gesicht ausdrüken können.
Bei »Cab Legs«, das »Elevator Repair Service« vor einigen Tagen in den Sophiensälen zeigten, waren indische Schlager Ausgangspunkt der Choreographien. Diesmal führen die sieben ihren fröhlichen kontrollierten Irrsinn zu Jazzmelodien spazieren. Wenn Tanzen die Freiheit ist, ist Sitzen Gefangenschaft. Die Möbel — neben einer weißen Wand, die einzige Dekoration — sind subtile Folterinstrumente. Ein schiefes Armesünderbänklein, ein quietschender, wakkelnder Drehstuhl und eine Kiste, in die sich die Schauspieler absurd verrenkt hineinquetschen.
Zum Erfolg von »Total Fictional Lie« trug auch ein scheinbar jenseits der Kunst liegendes Moment bei: Die Ausstrahlung der Truppe. Doch auch die ist professionell hergestellt. Weil den Darstellern ihre individuelle Ausstrahlung gelassen wird, wirken sie wie jedermanns fröhliche Wohngemeinschaft. Und so verfolgt man ihre Darbietungen mit der warmherzigen Anteilnahme, mit der man Freunden zuschauen würde.
Doch im Leben wie im Theater sind die Netten nicht immer die Interessantsten. Schmerzen und Anstrengungen, die manchmal zu Verfeinerung des Theatergenusses beitragen können, haben die freundlichen Handelsreisenden von »Elevator Repair Service« nicht im Angebot. Über allem waltet eine gutgetarnte Belanglosigkeit.