Tages-Anzeiger August 28, 2006
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Photo by Sabina Bobst

GatzPress

Die Widergeburt Der Werktreue Mit Den Mitteln Der Soap

von Tobi Müller

In Amerika ist Fitzgeralds «The Great Gatsby» Pflichtlectüre. Eine New Yorker Gruppe liest ihn am Theater Spektakel Wort für Wort — und spielt zunehmend wie im Film. Ruhig, lang, lustig.

Ein seltsamer Raum. Ein Archiv, ein Büro mit einsichtigen Fenstern. Eine Schreibmaschine steht gegenüber einem Computer. Leiser Grossstadtlärm, es ist Morgen, ein Mann beginnt seinen langweiligen Tag. Doch der Rechner springt nicht an. Im alten Adresskasten steckt ein Buch. Er ist alleine und liest halblaut den ersten Satz. Es ist der Beginn einer Verwandlung: vom Broker zum Bücherwurm. Es ist die Verwandlung des Erzählers Nick Carraway (Scott Shepherd). Später werdens zwölf Akteure, es wurde auch mal laut und wuselig, am Schluss auch schön soapmässig.

Fast dreieinhalb Stunden dauerte der erste Teil, der am Donnerstag in der Roten Fabrik aufgeführt wurde. Elevator Repair Service, eine Theatergruppe aus New York, lässt aus dem amerikanischen Pflichtroman von F. Scott Fitzgerald keinen Satz aus: «The Great Gatsby», erschienen 1926. Am Theater Spektakel heisst der Abend «Gatz», wie die flunkernde Hauptfigur, als sie noch nicht prunkreich auf Long Island residierte, sondern ärmlich in North Dakota aufwuchs.

Entwarnung: Die Dauer stört nicht

Dass man für die stattliche Länge sogleich Sitzfleisch-Entwarnung geben kann, liegt auch an einer in unserem Theaterverständnis seltenen Kreuzung. Das dumme Wort Werktreue (es gibt sie nicht: Jeder Schritt auf der Bühne ist ein Schritt weg vom Text) wird dienerisch erfüllt und zugleich wieder konkurrenziert. Wer sehr gut English versteht, freut sich tatsächlich über Fitzgeralds Beat, diesen dezent sprachverliebten Flow, der auf Deutsch immer so viel schwerer zu haben ist.

Es ist ein Sprachfluss, der den rasant entstehenden Reichtum im Jazz Age feiert und die Grundfesten des amerikanischen Fordismus als Schönheit glorifiziert. Dabei aber bereits von den moralischen Fallen des geschichtslosen Materialismus warnt. Auch auf figürlicher Ebene: Die Widergeburt von Gatz als Gatsby, die als «Rebirth» eine religiouse Dimension in sich trägt, liegt verdammt nahe an der profanen Lüge. Szenenzusammenfassungen gibt es auf einer elektronischen Tafel, trotzdem: ohne Englischkenntnisse verpasst man sehr viel.

Auf der andern Seite schwirrt die allmählich auf zwölf Aktuere anwachsende Gruppe um den Vorleser und Erzähler herum und schafft dabei eine Atmosphäre der Ähnlichkeit: Oft und immer enger kommentiert das Bühnengeschehen zwar die gelesene Romanhandlung, man nistet sich gemeinsam im Text ein, als wollte man den Büroalltag hinauswerfen. Die Wechsel von Büro zu Roman und zurück sind aber so genau getaktet und doch so leichtfüssig, dass krude Schnitte kaum vorkommen.

Komödiantische Geräuschkulisse

Vielleicht ist gerade diese Perfektion das einzige kleine Problem dieser uneitlen Truppe (Eitelkeit würde den Text sofort heiligen, was man in dieser radikal-konservativen Form und bei dieser Dauer nicht aushalten würde). Das Gefüge der Auftritte wird etwas voraussehbar, die Engführungen von Bühne und Text sind manchmal wirklich nur eng. Bloss, und das können wieder fast nur Amerikaner wissen, zitieren die komödiantische Geräuschkulisse und einige Darstellende auch die grosse Tradition der so genannten Screwball Comedies, wie sie die US-Filmindustrie vor allem in den Dreissiger-jahren produziert hat. Wenn die alte Geliebte Daisy im teuren Hemdenstapel Gatsbys einen fröhlichen Tränenfanfall hat, kriegen wir Europäer eine Ahnung von dieser kommerziellen, aber auch anarchisch-bissigen Tradition.